Das Wunder vom Kaukasus
Hohe Politik im Freizeitlook: Bundeskanzler Helmut Kohl in der Strickjacke, der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow im Pullover – das waren die Bilder, die damals, im Sommer 1990, um die Welt gingen.
Die beiden Politiker hatten sich in Gorbatschows Datscha in Archyz im Kaukasus getroffen, um in zwangloser Atmosphäre die Wiedervereinigung Deutschlands auszuhandeln
AUS ARCHYZ
CHRISTINA CALLORI-GEHLSEN
Der Weg zur Gorbatschow-Datscha ist nicht leicht zu finden. Von der Hauptstraße kaum sichtbar, öffnet sich langsam ein eisernes Tor und macht die Zufahrt zum Bauwerk frei, das erst nach einer letzten Biegung auftaucht. Die Datscha steht am Ufer des Großen Zelentschuk – ein massiver, geduckter Bau mit breiten Balkonen und spitzen Dächern, die dem Wetter auf 1.400 Metern Höhe trotzen. Herr Ljubow, der Direktor, seine Gattin und die Wirtschafterin stehen bereit und freuen sich, endlich einem Gast aus Deutschland den historischen Ort zeigen zu können – dem ersten seit Juli 1990. Auch der Schuldirektor des kleinen Dorfes, ein Hotelbesitzer und eine Dolmetscherin haben sich dem kleinen Empfangskomitee angeschlossen. Es scheint, als hätten alle nur auf diesen Moment gewartet.
Die Datscha ist in einem äußerst gepflegten Zustand. Im Eingangsbereich ein ausgestopfter Gebirgsbock, dann kommt schon der Konferenzraum. Hier wurde um die Zugehörigkeit Deutschlands zur Nato und die Truppenstärke im wiedervereinigten Deutschland verhandelt. Im Billardzimmer nebenan fanden ebenfalls Gespräche statt. Im Speisesaal mit dem eleganten Kronleuchter wurde damals neben anderen typisch kaukasischen Speisen Schaschlik vom Hammel auf riesigen Spießen serviert, dessen Duft den Gästen auf dem Rückweg vom Spaziergang durch den Park schon in die Nasen wehte. Zum Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1990 in Rom prostete Gorbatschow dem Bundeskanzler mit Armenischem Cognac zu.
Herr Ljubow lässt die Appartements öffnen, in denen Helmut Kohl und Michail und Raissa Gorbatschow gewohnt haben. Kohls Zimmer ist mit dunkelgrün gemusterter Tapete und dazu passenden Teppichen ausgestattet
– ganz im Prachtstil der Sowjetunion. Der Direktor fragt, ob man eine Nacht hier schlafen möchte. „Nein, lieber doch nicht.“ Vor dem Schlafzimmer liegt der Balkon, von dem aus Helmut Kohl zum sternenbedeckten kaukasischen Himmel emporgeblickt hatte. Er schreibt, dass ihn in diesem Augenblick das Gefühl der Zuversicht überkam und er sich sicher war, dass sich die Reise hierher gelohnt habe. „Wir haben Fortüne gehabt“, resümierte Kohl auf dem Weg zurück nach Bonn. Der Weg zur deutschen Einheit war frei.
Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park, dorthin wo der Zelentschuk rauscht, kommt die Gruppe endlich zu dem rustikalen Tisch mit den Stühlen, die aus Baumstämmen herausgesägt wurden. Hier saßen am 16. Juli
1990 Kohl, Gorbatschow und Genscher, umringt von Raissa Gorbatschowa, Kohls Pressesprecher Hans Klein, Schewardnadse, Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik, Finanzminister Theo Waigel. Kohl in Strickjacke, Gorbatschow in Pullover, nur Genscher trug Anzug. Bis 2001 waren Strickjacke und Pullover wie Reliquien in Haus der deutschen Geschichte in Bonn ausgestellt. Seitdem sind die Textilien im Magazin verschwunden.
Etwas zögerlich nehmen die Besucher nun am Tisch Platz. Die Autorin setzt sich auf den Stuhl, auf dem Genscher saß. Im Unterschied zu damals, als Raissa den anwesenden Journalisten einen Blumenstrauß pflückte, ist diesmal das Gras gemäht und zu Heuhaufen geschichtet. Der Große Zelentschuk rauscht wie damals, nur der kleine abschüssige Weg zum Fluss, den Gorbatschow und Kohl hinabgestiegen sind, ist zugewachsen – es war lange niemand hier.
Die Unterhaltung am historischen Ort wird immer lebendiger. Frau Ljubowa und die Übersetzerin Alexandra Nikolajewna schwärmen: „Russen und Deutsche schreiben große Romane, wie Lew Tolstoi und Thomas Mann, und haben auch große Dichter – die Amerikaner schreiben nur große Romane, aber keine Gedichte.“ Es fällt auch immer wieder das Wort Friede, Mir auf Russisch. Allen ist die derzeitige angespannte politische Lage bewusst. Es drängt sich der Vergleich mit 1990 auf, als die Gespräche hier das Ende eines langen Konfliktes brachten.
„Ich sehe ein freies, demokratisches Europa vom Atlantik bis zum Ural“, schrieb Kohls Pressesprecher Hans Klein später. Die Realität sieht heute anders aus. Doch im Moment genießt die kleine Gesellschaft die Ruhe des Ortes. Die Reise hierher hat sich – wie es schon Helmut Kohl empfunden hatte – gelohnt.
Die Vorbereitungen im Frühjahr waren holprig. Fast schien es, dass angesichts der politischen Spannungen eine Reise hierher unmöglich wäre.
Doch am 8. August erwartet Ruslan Gedijew, der Besitzer des Hotels „Bergluft“ in Archyz, den Gast am Flughafen Krasnodar. Die Fahrt durch die endlose Steppe dauert fast sechs Stunden. Die Monotonie der Landschaft wird nur ab und zu durch riesige Sonnenblumenfelder unterbrochen. Erst ab Maikop, einer Provinzstadt mit knapp 150.000 Einwohnern, wird es hügeliger und grüner. Einige Bäume spenden am Straßenrand Schatten. Endlich erheben sich in der Ferne feierlich die Berge des Großen Kaukasus.
Dort, eingebettet im Nordhang, liegt Archyz, eine Siedlung in der Region Karatschai-Tscherkessien. Das Dorf wurde erst 1923 gegründet. Die am Nordhang des Kaukasus lebenden Tscherkessen ließ Stalin 1943 wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht nach Kasachstan und Kirgisien deportieren. Das Schicksal teilen die Tscherkessen mit den Tschetschenen und den Krimtataren. 1957 erhielten die Tscherkessen die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat. Viele von ihnen siedelten sich in Archyz an. 1980 lebten hier 1.200 Einwohner, heute sind es noch 500.
Das Dorf wirkt nicht einladend. Eigentlich handelt es sich nur um eine breite, asphaltierte Hauptstraße, an der sich einige Geschäfte, das Hotel „Bergluft“ des rührigen Ruslan Gedijew, sowie ein Basar reihen.
Einige weitere Hotels liegen am Ufer des Großen Zelentschuk, von der Straße aus nicht sichtbar. Kühe und die kleinen, wendigen tscherkessischen Pferde bestimmen das Straßenbild. Wenn die Dorfjungen oder die russischen Touristen die Straße entlang galoppieren, erfüllt das Klappern der Hufe die Luft. Die Nebenstraßen sind ungepflastert und verwandeln sich je nach Wetterlage in Schlamm- oder Staubpisten.
Das gesunde Klima und die Abgeschiedenheit haben hohe sowjetische Parteifunktionäre, darunter der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin und Parteichef Leonid Breschnew, dazu bewogen, hier ihre Datschen zu bauen – bei denen es sich in Wahrheit meist um Villen handelt. Die Datscha Kossygin liegt auf dem Gelände der Gorbatschow-Datscha. Eine weitere Regierungsdatscha ist etwas außerhalb des Ortes angesiedelt und heute ein Sanatorium. Dort wohnten 1990 die beiden Außenminister Genscher und Schewardnadse.
Bei der Ankunft im Hotel „Bergluft“ findet ein Festessen zu Ehren des Besuches aus Deutschland statt. Mit am Tisch sitzen eine ehemalige Deutschlehrerin und ihre Schülerin Alexandra Nikolajewna, die übersetzt.
Die Deutschlehrerin schwärmt von Heinrich Heine. Bei einem Spaziergang durchs Dorf stimmt sie die „Loreley“ an – und kennt alle Strophen auswendig. Zu Sowjetzeiten wurde in der Schule Deutsch unterrichtet, erzählt sie, jetzt stehe Englisch auf dem Lehrplan.
Der Besuch aus Deutschland hat auch die Neugier des örtlichen Fernsehsenders Archyz24 geweckt. Zwei Tage nach dem Besuch der Datscha geht es nach Tscherkessk, der Hauptstadt der Region. Die Fahrt führt hinunter in die Ebene, durch die Steppe und das Gebirgsvorland mit bizarren Felsformationen. In der Ferne erhebt sich der Elbrus mit seinem 5.640 Meter hohen Doppelgipfel.
In Tscherkessk ist es heiß. Eine moderne quirlige Stadt mit den üblichen Plattenbauten an der Peripherie. Die Fernsehstudios sind nagelneu und modern ausgestattet. „Wir freuen uns für die Deutschen, dass sie die Einheit ihres Landes erhalten haben“ sagt eine Redakteurin zur Begrüßung und fügt an: „Aber für uns hat Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion gebracht.“ Es entspinnt sich sofort eine Diskussion – nicht vor laufender Kamera -, ob denn ohne Gorbatschows Perestroika das Russland von heute denkbar wäre. Es scheint bei allen Gesprächen, dass das Land unter Phantomschmerzen leidet. Während der Rückfahrt aus Tscherkessk lässt ein Journalistenteam aus Japan, das über die Verhandlungen zur deutschen Einheit berichten will, anfragen, ob sich eine Reise nach Archyz lohnt. Auf jeden Fall!
Zum Abschied kommt Marat Chubijew nach Archyz, ein freundlicher, aufgeschlossener Mann und Minister der Regionalregierung. An die Gespräche im Juni 1990 kann er sich nicht erinnern, bedauert er, dazu sei er zu jung. Er freue sich auf weitere Gäste und verspricht Unterstützung für den Fall, dass im nächsten Jahr, dem 25. Jahrestag der Begegnung, Deutsche hierher kommen wollen. Die Idee einer Gedenktafel gefällt ihm.
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