„John F. Kennedy – Martin Luther King, Wegbereiter für Barack Obama“

Als Autorin der Doppelbiographie von Kennedy und King, den beiden tapferen Menschen, die es ermöglicht haben, dass die Vereinigten Staaten heute einen schwarzen Präsidenten haben, wünsche ich mir eine lebendige Diskussion mit politisch interessierten Menschen.

Christina Callori di Vignale

 

Das Buch ist erschienen bei Rubens Verlag Freiburg, 2010
ISBN 978-3-9812821-0-8

Das Vorwort zum Buch von Gernot Erler

Vom Steigen auf den Berg

Ich finde, Politik muss vernünftig sein, der Aufklärung verpflichtet. Bei Wahlen sollen Argumente gelten. Gewinnen soll, wer in der Sache überzeugt.

Die Realität folgt nicht immer diesen rationalen Postulaten. Auch ich nicht. Ich bekenne, dass es mich ein paar Mal mitgerissen hat. Aber ich kann nicht erklären, warum ich für John F. Kennedy geschwärmt habe. Warum ich als 19jähriger Student am 26. Juli 1963 mit 200 000 anderen Berlinern zum Schöneberger Rathaus gepilgert bin. Ich erinnere mich, dass ich mich für meine etwas feucht werdenden Augen geschämt habe, als er sein später historisch gewordenes Bekenntnis „Ich bin ein Berliner!“ über den Platz hallen ließ. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Nur, dass ich mich damals zur „Generation JFK“ zählte und vage Hoffnungen hegte auf eine bessere Welt, auf eine glaubwürdigere Politik.

Am 22. November desselben Jahres, und das werde ich nie vergessen, saß ich in der Bibliothek des Historischen Seminars der FU Berlin in der Altensteinstraße in Berlin-Dahlem. Es war schon dunkel draußen, und die paar Kommilitonen, die noch da waren, arbeiteten so leise, dass man hörte, wie sie die Seiten ihrer Bücher umblätterten. Plötzlich irritierte mich ein Geräusch vom Tisch der Bibliotheksaufsicht her. Ich ging zu der jungen Frau, die dort Dienst tat, erkannte, dass sie weinte, und fragte, warum. Sie schluchzte: „Im Radio haben sie gesagt, Kennedy ist erschossen worden.“ In wenigen Minuten waren wir alle draußen auf der Straße. Es gab noch keine Handys, aber jeder wusste, wohin man musste: zum Schöneberger Rathaus. Da traf man viele, besonders viele junge Menschen, und plötzlich hatte auch ich eine Fackel in der Hand. An die spontanen Reden kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber dass viele heulten, ohne sich dafür zu schämen, das weiß ich noch.

Viel später habe ich gelernt, welches Risiko Kennedy bei der Kubakrise 1962 eingegangen ist, dass er wichtige Schritte hin zum Vietnamkrieg vollzog, habe auch von seinen sexuellen Eskapaden gehört. Mein Bild von ihm bekam dabei ein paar Schrammen. Aber dieser Wunsch nach einer Politik, die Hoffnung, Verantwortung und Vision verbindet, ist geblieben. Und für diese Wunschvorstellung blieb Kennedy eine nichtzerstörbare Personifizierung – vielleicht auch, weil die Mordkugeln ihn schneller ereilten als jede denkbare Ernüchterung.

Die Ermordung von Martin Luther King am 4. April 1968 war für mich eine Bestätigung für meine persönliche Distanz zu der amerikanischen Gewaltgesellschaft, die mit mir viele „68er“ teilten und die wir vor allem in Protesten gegen den Vietnamkrieg zum Ausdruck brachten. Das hatte zunächst mit der Person des schwarzen Predigers der Gewaltlosigkeit wenig zu tun. Die Figur King begann mich erst zu interessieren, als ich 1978 im Freiburger Dreisam-Verlag, dessen Leiter ich zwei Jahre später wurde, die Herausgabe eines Vorläufers des hier vorliegenden Bandes. Dort hörte ich erstmals von den komplizierten Querverbindungen zwischen John F. und Martin Luther. Und mich beeindruckte ein Stück aus der Rede, die King am Vortag seines Todes in Memphis bei einer Protestversammlung von Müllmännern gehalten hatte, als schon Gerüchte von einem bevorstehenden Anschlag auf ihn herumschwirrten: „Ich weiß nicht, was geschehen wird. Schwierige Zeiten stehen bevor. Aber wir dürfen uns nicht beirren lassen. Ich möchte auch gern lange leben. Doch darüber kann ich im Augenblick nicht nachdenken. Ich muss tun, was jetzt notwendig ist. Weil ich, wie ihr wisst, auf dem Berge war, machen mir Drohungen nichts mehr aus. Ich bin glücklich, mit euch zusammen in das Land zu ziehen, das ich vom Berge aus gesehen habe…“

Es war die Vorstellung von einem Land, in dem gleiche Rechte wie selbstverständlich für alle gelten. In dem deshalb die Energien für andere wichtige Dinge mobilisiert werden können – für den Kampf gegen die Armut und gegen den Krieg, den Martin Luther King hasste. Er hatte die Gabe, diese Gewissheit über das Ziel und über den gewaltlosen Weg dahin weiterzugeben. Und wie er das konnte: nicht über Belehrung, sondern über Kommunikation, die sich bei seinen Auftritten rhythmisierte, wie ein Impuls alle erfasste und in gleicher Art beantwortet wurde. Ich habe ihn leider nie hören können und habe nie jemand getroffen, der ihn erlebt hat. Aber später, 1982, bei einer USA-Reise, bin ich extra nach Atlanta gefahren, um in seine Ebenezer Baptist Church zu gehen. Ich hatte Glück, konnte an einem Gottesdienst als einer der wenigen Weißen teilnehmen, mit einem Prediger in seiner Tradition des rhythmischen Wechselsprechgesangs, bei dem die Atmosphäre immer gelöster, ja heiterer wird. Es war eine Ahnung von dem, was Martin Luther King vermochte.

Am 24. Juli 2008 hatte ich diese Erinnerung im Kopf, als ich wieder einmal gepilgert bin, diesmal zur Berliner Siegessäule, um die Rede des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama zu hören. 200 000 Menschen, ganz viele junge dabei, wollten ihn sehen und ihm zuhören. Deshalb kam ich nicht sehr nah an die Rednertribüne und musste auf die Großbildleinwand starren. Ich dachte, er ist 46 und sieht doch jünger aus als King, der keine 40 Jahre alt wurde. Und seine Rede gefiel mir sehr gut. Da war wieder die Vision, als sei auch Obama auf dem Berge gewesen und habe ein Land erspäht, das anders handelt als seines bisher. Das die anderen nicht mit seinen Machtmitteln gefügig machen will, sondern in seiner Leitfunktion anerkannt werden will, weil es die eigenen Werte ernst nimmt und lebt. Das reicht eigentlich als Botschaft, alles andere sind Einzelheiten. Und die Nähe zu dem, was JFK und Martin Luther King ausgestrahlt haben, ist so deutlich, dass sie nicht benannt werden muss.

Am 4. November 2008 wurde Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Ich weiß nicht, wie viele Menschen weltweit die Bilder von seiner Victory Speech im Grant Park in Chicago gesehen haben und was sie davon für sich behalten werden. Was mich betrifft, war es ein kurzer Kameraschwenk auf das Gesicht von Jesse Jackson, dem schwarzen Bürgerrechtler und Baptistenpastor, der 1984 und 1988 vergeblich versucht hatte, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden. Ich sah, dass dicke Tränen über sein alt gewordenes Gesicht flossen. Alle anderen Bilder sind mir schon wieder entschwunden.

Ich hoffe, das Barack Obama besser geschützt wird als Kennedy und King, auch auf die Gefahr hin, dass er nicht all die riesigen Erwartungen und Hoffnungen, die ihm entgegenströmen, erfüllen kann und er irgendwann über Strategien gegen die Ernüchterung nachdenken muss. Das wäre normal. Diese Welt lebenswerter zu gestalten – und jetzt kehre auch ich allmählich aus meinen emotionsreichen Erinnerungen zurück – erfordert Vernunft, Überzeugungskraft und den langen Atem. Das ist klar. Aber irgendwer muss auch von Zeit zu Zeit ein Feuer anzünden, das den Weg zeigt und weiter brennt, als Fackel von Hand zu Hand weitergereicht, und das auch dann noch eine innere Orientierung gibt, wenn es erlischt. Das ist einfach nötig. Dann lässt sich vieles leichter tragen und ertragen, in einem politischen Alltag, in dem sich Erfolg und Rückschläge abwechseln und einem die Strecke bis zu dem vom Berg erschauten Land schier endlos vorkommt.